Colonie Estive Liguri - Die unbequemen architektonischen Denkmäler des italienischen Faschismus

Italien


44.5505886 9.4439467 Italien
Diese Objektpräsentation und die dazugehörenden Fotos wurden der Heinze GmbH im Rahmen des Heinze ArchitektenAWARDs 2025 zur Dokumentation beispielhafter Architektur zur Verfügung gestellt.

Objektkategorie

Wohnungsbauten

Objektart

Sonstige Wohnungsbauten

Art der Baumaßnahme

Entwurfskonzept

Datum der Fertigstellung

02.2025

Anzahl der Vollgeschosse

3- bis 5-geschossig

Raummaße und Flächen

Nutzfläche
3.800 m²

Tragwerkskonstruktion

Holz

OBJEKTBESCHREIBUNG 
Unbequeme Denkmäler
Bei den Colonie Estive (sinngemäß „Ferienkolonien“) handelt es sich um einen Bautypus, der ab 1926 unter dem faschistischen Regime Benito Mussolinis in großer Zahl an den Küsten und in den Bergen Italiens entstand. Diese Gebäude dienten zur sozialen Festigung der Gesellschaft, zur Bindung der Familien an ihre regimetreuen Arbeitgeber und zur Erziehung der Arbeiterkinder zu gefügigen Gliedern des autoritären Systems. Architektonisch findet man über das Spektrum dieser Gebäude eine bewusst große Vielfalt und Freiheit der Gestaltung. Die Colonie Estive sind bis heute nur in Teilen dokumentiert und aufgearbeitet. Angesichts der baulichen Vielfalt, architektonischen Qualität und geschichtlichen Relevanz ist es besorgniserregend, wie viele dieser Bauten vor dem Verfall bzw. dem Abriss stehen oder bereits abgerissen wurden. Die Auseinandersetzung mit historisch belasteter Architektur ist, angesichts einer aufstrebenden internationalen neuen Rechten, nicht nur eine gestalterische Aufgabe, sondern eine politische und gesellschaftliche Notwendigkeit. Der Erhalt der Bausubstanz und die Aufarbeitung der historischen Relevanz sind daher von größter Bedeutung.

Colonia Montana Rinaldo Piaggio
Der Entwurf beschäftigt sich mit der Ferienkolonie Colonia Montana Rinaldo Piaggio, entworfen von Carlo Luigi Daneri und erbaut 1938 im Namen des Unternehmens Piaggio. Das Gebäude zeichnet sich durch eine strenge Symmetrie aus, der eine schlanke, elegant geschwungene Kubatur und eine behutsame Gliederung der Volumen entgegengesetzt wird. Dadurch wirkt es weder dominant noch monumental, sondern es bettet sich elegant in die Landschaft. Die Intention des Architekten nach einer modernen, zukunftsweisenden Architektur, die Errungenschaften einer modernen Gesellschaft und der Ausdruck funktionaler Strenge verschmelzen. Die ideologische Einschreibung der Nutzungsabläufe und der Struktur spiegeln sich erst auf den zweiten Blick in den ursprünglichen Grundrissen des Gebäudes und seiner Außenanlagen wider. Sie sind es jedoch, die das Gebäude zu einer Struktur der Überwachung, der Disziplinierung und der Entindividualisierung machen.

Verfall und Umbau
Die Kolonie hat bereits eine erste große Umbauphase hinter sich. Dabei wurde die Raumstruktur grundlegend verändert, um an der Nordseite anzubauen. Diese Umbaumaßnahmen zeugen von einem ungeschickten und unsensiblen Umgang. In dem Versuch einer Einteilung der ehemaligen Schlafsäle, wurden Wände und Nasszellen unachtsam eingesetzt. So ist eine teils labyrinthische Struktur entstanden, die eine Orientierung in dem bis dahin klar gegliederten Gebäude fast unmöglich macht. Gleichzeitig hat der Umbau deutliche Schäden an der bauphysikalischen Hülle des Gebäudes verursacht, die zum Verfall der gut konstruierten Substanz beitragen. Dieser zeigt sich an verschiedenen Stellen durch das Eindringen der Natur in das Gebäude. Zeugnisse der früheren Nutzung sind innerhalb und außerhalb des Gebäudes verstreut und vermitteln das Bild eines plötzlichen, chaotischen Verschwindens der Menschen aus dem Gebäude.

Transformation und Entwurf
Bei dem Um- bzw. Weiterbau der Ferienkolonie Rinaldo Piaggio geht es um eine bewusste Auseinandersetzung mit den ursprünglichen Strukturen, eine Entschärfung ideologisch geprägter Raumsituationen und um die Erhaltung eines in Zeitschichten abzulesenden Transformationsprozesses.
Die Form der Nutzung soll die Auseinandersetzung mit dem Gebäude, seiner Architektur und Geschichte fördern und gleichzeitig ein Gegenmodell zu dessen ursprünglicher Nutzung darstellen. Mit dem Umbau der ehem. Ferienkolonie soll ein Raum für eine Gemeinschaft von Künstler*innen und Kreativen entstehen, indem sie die Freiheit, den Raum und die Bühne haben, sich mit der eigenen Kunst und mit den großen Fragen unserer Zeit auseinanderzusetzen. Die Nutzungsidee ist inspiriert von den Künstler*innenkolonien des 20. Jahrhunderts, die in einer Zeit wirtschaftlichen Wandels und gesellschaftlicher Krise, Orte des Innehaltens und der Reflexion in der Natur boten.
Die neue Nutzung geht über den Rückzugsort dieser ehemaligen Kolonien hinaus und wird, im Hinblick auf eine global vernetzte Welt, zum lebendigen Zentrum für kreativen Austausch, Kollaboration sowie gemeinschaftliches Leben.
Der Entwurf legt einige räumliche Qualitäten der ursprünglichen Raumstruktur frei und kontextualisiert sie wiederum durch die neue Nutzung. Die kritischen Eingriffe der ersten Umbauphase werden in großen Teilen rückgebaut, während stimmungsvolle Momente der Verlassenheit wie im ehemaligen Speisesaal und der Küche erhalten bleiben. Die Klarheit und Weite des ursprünglichen Raumgefüges wird wiederhergestellt, ohne die historische Entwicklung des Gebäudes zu verleugnen. Die neuen Ergänzungsstrukturen in den Obergeschossen werden über Materialität und Farbe klar als solche kenntlich gemacht und fügen sich durch ihre Proportionen und Fügung respektvoll in das Ensemble ein. Das Wohnkonzept der neuen Nutzung orientiert sich an Offenheit, Flexibilität und Gemeinschaft. Im Zentrum jeder Etage liegt ein großflächiges Wohnatelier, das gemeinschaftlich genutzt wird. Es referenziert die Struktur der alten Schlafsäle, bricht jedoch deren funktionale Strenge zugunsten von individueller Gestaltungsfreiheit. Küchenbereiche, gemeinschaftliche Terrassen, Rückzugsräume und flexible Zonierungen durch Vorhänge und Trennwände erlauben unterschiedliche Wohn- und Arbeitsformen.
Der Außenraum wird gezielt aktiviert und seine alte Symmetrie wird aufgebrochen. Eine neu geschaffene Eingangssituation im Erdgeschoss, eine Sichtachse zur Straße, landschaftliche Freiräume, eine Aussichtsplattform und eine Südwest-Schneise strukturieren das Gelände neu und laden zum Aufenthalt und zur kreativen Aneignung ein.
Auch das nicht denkmalgeschützte Nebengebäude, ehemals Empfangsbereich und Krankenstation, wird in den Umbau integriert. Obwohl die interne Bausubstanz nicht für eine neue Nutzung geeignet ist, wird auf einen Abriss verzichtet, da das Gebäude Bestandteil des architektonischen Gesamtgefüges ist. Stattdessen wird es statisch neu organisiert und mit einem leichten, klar ablesbaren Dachaufbau versehen. Ein Stahlgerüst übernimmt die tragende Funktion, ergänzt durch transluzente Dachelemente zur Verbesserung von Belichtung und Belüftung. Der gestalterische Kontrast zwischen Alt und Neu bleibt bewusst sichtbar.

Dieser Entwurf versteht sich als Beitrag zu einer bewussten, respektvollen Weiterentwicklung historisch belasteter Bauten. Er transformiert ein Instrument der Indoktrination in einen Ort der Freiheit, Kreativität und Reflexion. Die Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird nicht als Bruch, sondern als kontinuierlicher Dialog verstanden. Die ehemalige Kolonie wird so zu einem Ort der gesellschaftlichen Utopie, die sich ihrer Geschichte stellt und gleichzeitig neue Perspektiven eröffnet.
 
BESCHREIBUNG DER BESONDERHEITEN 
Die Einzigartigkeit des Entwurfs, bedingt durch den Bestandsbau und seinen historischen Kontext, zeigt sich in einigen Schlüsselmomenten:​

Das Wohnatelier als Haupt-Wohnraum in Kombination mit dem performative Wandmöbel ist ein zentrales Element der Wohnidee. Es trennt öffentliche und private Bereiche aber integriert auch Stauraum, Schreibtisch und Übergangszonen. Es ermöglicht vielfältige Raumszenarien und fördert die individuelle Aneignung des Wohnraums. In diesem Gefüge kommen der Bestand und die Ergänzung stimmungsvoll zusammen.

Die von Boden bis Decke verglaste Südfassade des Bestands ist streng und sehr fein durch Stahlfenster mit Kippöffnung gegliedert. Hinter ihr zeigt sich die regelmäßige Stahlbeton-Skelett-Tragstruktur. Das in Materialität und Farbe harmonische Zusammenspiel bleibt im Umbau erhalten.

Die Werkstätten und die Orangerie werden als offene Raumstrukturen belassen und werden zum Träger von Spuren einer Jahrzehntelangen Nicht-Nutzung des Gebäudes. Als Räume ohne weitreichende bauphysikalische Anforderungen werden sie minimalen Veränderungen zur Nutzbarmachung unterzogen. Die Eingriffe werden auf ein Mindestmaß beschränkt, wodurch die Raumwirkungen erhalten bleiben.
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