Das Grundstück liegt südlich der Marburger Innenstadt am nördlichen Rand des sogenannten Vitosareals, das im 19. Jahrhundert als parkartiges Gelände für eine psychiatrische Klinik angelegt wurde.
Statt der damals für diese Bauaufgabe üblichen "Kasernenbauten" entschied man sich weitsichtig für "die Anlage sogenannter Cottages", also die Unterbringung der verschiedenen Abteilungen in Einzelhäusern. Auf diese Weise konnte man zunächst kleiner bauen, da Erweiterungen je nach Bedarf problemlos möglich waren. Umgekehrt kann man heute ebenfalls einfacher umstrukturieren und umnutzen, da ein Nachverdichten durch Hinzufügen weiterer maßstabswahrender Baukörper sehr gut möglich ist.
Die Klinik in Marburg sollte zum Prototyp für den bis dahin in Deutschland noch nicht angewandten Kolonial- oder Pavillonstil werden, der gleichzeitig Ausdruck eines psychiatrischen Reformkonzeptes war.
Noch während der Bauphase wurde damit begonnen, den im Sinne des Kolonialstils vorgesehenen Landschaftspark anzulegen, der bis heute das städtebauliche Bild prägt.
Die Gesamtanlage ist denkmalgeschützt.
Im Zuge einer Umstrukturierung der Psychiatrie soll der nördliche Teil des Vitosareals sukzessive neuen Nutzungen zugeführt werden. In diesem Zusammenhang wurde das für den Bau der Kindertagesstätte zur Verfügung stehende Grundstück inkl. einer kleinen Kapelle an die Stadt Marburg verkauft.
Das leicht abschüssige Baufeld liegt an der Cappeler Straße westlich der Kapelle an einer auffälligen Lichtung im Park (Wiese).
Diese Lichtung lässt es zu, dass die Gebäudehüllflächen nicht verschattet werden und dadurch in hohem Maße zur Energieerzeugung aus Photovoltaik herangezogen werden können.
Entwurf, Konstruktion
Der Ortsbezug, die Nutzung als Kindertagesstätte und der Plusenergiestandard sind die 3 wesentlichen Entwurfsparameter.
Der Ortsbezug ist besonders wichtig, da der bestehende Parkcharakter unbedingt erhalten werden sollte. Die Lage im Park mit der vorhandene Topographie, der Bezug zur historischen Bebauung und insbesondere die Nachbarschaft zur Kapelle sind ausschlaggebende Faktoren für das Konzept.
Gleichzeitig sollte ein freundlicher Ort entstehen, der Kindern und Erwachsenen eine anregende, lebensfrohe Umgebung bietet und seine Funktion als Kindertagesstätte angemessen erfüllt.
Last but not least sollte ein Haus mit innovativer Gebäudetechnik entstehen, das mehr Energie erzeugt als es selbst verbraucht.
Im Sinne eines Pavillons im Park bezieht sich der Entwurf in erster Linie auf die Landschaft und tritt daher nicht in Konkurrenz zum historischen Gebäudebestand. Gleichwohl ordnet sich der rechteckige, 2-geschossige Baukörper in das vorhandene orthogonale städtebauliche System ein. Seine Positionierung erhält einerseits den größten Teil der charakteristischen Lichtung (Wiese) und andererseits genügend Abstand zur denkmalgeschützten Kapelle. Er tritt darüber hinaus deutlich hinter deren Vorderkante zurück.
Das Grundstück steigt von der Wiese bis zur Kapelle um ca. 3,00 m an. In diesen Hang wurde der Baukörper "hineingeschoben", so dass er von der Kapelle aus betrachtet nur 1-geschossig in Erscheinung tritt und den Kindern in beiden Geschossen einen direkten und stufenlosen Zugang in den Freiraum ermöglicht. Im Erdgeschoss orientieren sich die Gruppen nach Westen zur Wiese und im Obergeschoss nach Osten zur Kapelle.
Um den Plusenergiestandard zu erreichen, wurden die Dachflächen und die südwestliche Fassade im Obergeschoss aktiv für Photovoltaik herangezogen. Diese Bauteile wurden, im Gegensatz zum Erdgeschoss, als Faltwerk in leichter Holzbauweise ausgeführt. Dadurch entstand sowohl ein differenziertes Erscheinungsbild mit Assoziationen an beispielsweise Strand- oder Gartenhäuschen, als auch eine differenzierte Innenraumgestaltung und -wahrnehmung mit starken Identifikationsmöglichkeiten: während die Kinder im EG die große Wiese vor sich haben, bietet im OG die Dachlandschaft zusätzliche räumliche Qualitäten. Durch die Faltung wird darüber hinaus die Ausrichtung der Solarmodule optimiert und die solaraktive Oberfläche vergrößert. Die 2-geschossige Bauweise ergibt darüber hinaus einen kompakten Baukörper und eine höher liegende, und somit weniger verschattete Dachfläche. Trotz der besonderen und eigenständigen Erscheinung bilden die geneigten Dachflächen auch ein Bindeglied zu den Bestandsbauten.
Die Solarmodule werden nicht additiv, sondern als integraler und gestaltbildender Bestandteil der Gebäudehülle verwendet.
Die innenräumliche Gestaltung orientiert sich wie das Gesamtkonzept des Gebäudes an der vor-Ort-Situation, die geprägt ist von der Lage im Park, der umliegenden Landschaft und der grünen Natur. Die Räume und Möbel im Inneren wurden in Anlehnung an die grüne, dicht mit Bäumen besiedelte Umgebung aus Fichte-Dreischichtplatten gefertigt und mit einer Farbpalette aus unterschiedlichen Grüntönen belegt. Umschlossen vom Grün im Außenbereich und gefasst vom Holz und den Grüntönen im Inneren verschwimmen die Grenzen von Innen nach Außen und der Park wird buchstäblich in das Gebäude hinein gezogen. Die ebenerdige Zugänglichkeit in beiden Geschossen unterstützt dieses Konzept zusätzlich.
Erschließung, Nutzung
Der Haupteingang befindet sich an der Südseite im Erdgeschoss auf dem Niveau der anliegenden Straße. Hier befinden sich der Mehrzweckraum, die Küche, das Treppenhaus mit Personenaufzug sowie Verwaltungsräume und die Gruppenbereiche 1 und 2, die jeweils aus einer Kinderstube, einem Ruheraum, einer Teeküche und einem Sanitärraum sowie einem für beide Gruppen gemeinsamen Differenzierungsraum bestehen.
Die Neben- und Technikräume sind im östlichen unbelichteten Hangbereich angeordnet. Die Küche und die zugehörigen Sozialräume erhalten über einen eingeschnittenen Lichthof ein hohes Maß an natürlicher Belichtung.
Der Gemeinschaftsraum, die Verwaltung und die beiden Gruppen öffnen sich großzügig verglast nach Süden und Westen.
Vor dem Eingang befindet sich - ebenfalls in den Hang geschoben - ein unbeheizter Kinderwagen-Abstellraum sowie ein Müllraum.
Die etwa mittig im Baukörper angeordnete gerade Treppe verbindet die beiden Erschließungs- und Spielflure, die im Erd- und Obergeschoss jeweils wechselseitig den Gruppen- und sonstigen Nutzungsbereichen zugeordnet sind.
Im Obergeschoss befinden sich die Gruppenbereiche 3, 4 und 5 mit jeweiligem Sanitärbereich, Differenzierungs- und Ruheraum. Die drei Gruppen öffnen sich nach Süden und Osten.
Somit bildet sich die wechselnde Orientierung in den Geschossen sowohl in der Lage der Gruppenbereiche wie auch der Erschließung ab.
Am Treppenhaus befindet sich ein Nebeneingang, der auch zur Kapelle führt. Diese wird noch denkmalgerecht saniert und zu einem multifunktionalen Raum umgenutzt.
Während für die Obergeschossgruppen 3 bis 5 ein Abstellraum für Außenspielgeräte im hinteren Teil der Kapelle eingerichtet wurde, erhielten die Gartengeschossgruppen 1 und 2 ein kleines separates Gartenhaus im Westen der Freiflächen.