Der Wittenberger Schlosskomplex zieht mit der durch Luthers Thesenanschlag weltberühmt gewordenen Schlosskirche (UNESCO Weltkulturerbe) jährlich hunderttausende Besucher an. Sein baulicher Zustand wurde jedoch der historischen Bedeutung des Ortes nicht gerecht. Im Vorfeld des Reformationsjubiläums 2017 wurde über Nutzungskonzept und bauliche Gestalt des Schlosses neu nachgedacht. Mit der Unterbringung des evangelischen Predigerseminars sollte der geschichtsträchtige Ort zu einem lebendigen Ort der Lehre und wissenschaftlichen Forschung weiterentwickelt werden. Um das vom Nutzer vorgegebene Raumprogramm realisieren zu können, wurde neben der Sanierung der Bestandsbauten auch der Neubau eines Unterkunftsgebäudes notwendig. Mit seiner Errichtung an der Stelle des 1814 zerstörten Südflügels sollte die städtebauliche Wirkung des Schlossensembles wiederhergestellt werden. Auf dem für den Neubau vorgesehenen Baufeld im Süden der Schlossanlage fanden im Zeitraum von 2010-2011 archäologische Grabungen statt. Die dabei freigelegten Baureste sollten als bedeutender Nachweis der frühen Schlossgeschichte erhalten und erfahrbar bleiben.
Städtebauliche Umsetzung / Ausformung des Baukörpers
Ziel des Entwurfs für den Neubau war die harmonische Eingliederung des Bauvolumens in das vorgesehene Baufeld. Der neue Südflügel entstand auf den Fundamenten seines Vorgängers. Er greift dessen Baukanten auf und wurde so zur Reparatur der gestörten städtebaulichen Situation des Schlosskomplexes genutzt. Der Schlosshof ist nach Wiederherstellung seiner baulichen Umfassung als zentraler Platzraum erlebbar.
Die Form des Baukörpers wurde aus den vorgefundenen Maßgaben des Ortes abgeleitet. Dazu zählten die zu integrierende archäologische Grabungsstätte, die Raumkanten des Schlosshofes und der Wallanlage, das vorhandene Großgrün und die Traufhöhen der historischen Vorgängergebäude.
Das Gebäude orientiert sich an der Kompaktheit der Bestandsanlage. Die Anordnung von Höfen, Einschnitten und Fugen im Baukörper strukturiert die einzelnen Funktionsbereiche (Wohnen, Gemeinschaft, Essen, Garten) und macht die innere Struktur nach außen hin ablesbar.
Die funktionelle Architektursprache lässt den Neubau als moderne Ergänzung des Schlosskomplexes erkennbar werden. Die Materialität seiner Fassade – in Anlehnung an die Oberflächenstruktur der Schlossfassade wurde geschlämmtes Sichtmauerwerk ausgeführt – stellt die optische Einheit des Ensembles wieder her. Auf Grund der Einsehbarkeit des Neubaus von den umgebenden Bestandsbauten wurde das Flachdach als fünfte Fassade begriffen und gestaltet. Im Sockelbereich macht eine Glasfuge zum Gelände und zu den historischen Mauerresten die Geschichte des Ortes erlebbar.
Der im Baufeld stehende alte Kastanienbaum war Anlass für die Ausbildung eines Einschnittes im Baukörper, der als introvertierter Gartenbereich gestaltet wurde. Unter Zuschaltung des angrenzenden Refektoriums und des Gemeinschaftsraumes können hier Außenveranstaltungen des Predigerseminars durchgeführt werden.
Zum Schlosshof hin präsentiert sich das Gebäude mit größeren Fassadenöffnungen. Die dort angesiedelten Foyers und Aufenthaltsbereiche des Predigerseminars kommunizieren optisch mit der Stadt. Auf der Elbseite befinden sich die Rückzugsbereiche und Unterkünfte mit Ausblick in die Landschaft. Abseits des städtischen Treibens finden die Vikare und Vikarinnen hier den nötigen Abstand zum Studieren und zur Einkehr.