Die ‚Boomjahre‘nach dem zweiten Weltkrieg zwischen 1949 und 1975 führten im Wohlfahrtsstaat Deutschland durch eine weitreichende Wohnungspolitik im Massenmodell zu intensiver Objektförderung und dem Bau von 4,9 Millionen öffentlich geförderte Wohnungen. Obwohl die Großwohnbauten in der Öffentlichkeit zumeist negativ konnotiert werden, charakterisieren sich einige Bauten dieser Epoche jedoch nicht nur durch eine hohe Zahl an gefördertem Wohnraum sondern auch durch eine bis heute hohe Bewohnerzufriedenheit. Hierbei handelt es sich um Bauprojekte, welche in der zweiten Bauperiode nach dem zweiten Weltkrieg (nach 1970) nach dem Leitbild ‚Urbanität durch Dichte‘ in zentraler Innenstadtlage und mit vielfältigen Funktionen entstanden. Das Thema der Urbanität manifestierte sich als Gegenbewegung zu den monotonen Siedlungen in Stadtrandlage der funktionalen Stadt, welche Segregation, wirtschaftliche Einschränkung, anwachsenden Individualverkehr, hohe Fluktuationsraten und Homogenität bestimmter (Alters-)Gruppen hervorbrachten. Die angespannte Situation auf den Wohnungsmärkten, der enorme Mangel an bezahlbarem und gefördertem Wohnraum, die konsequent steigende soziale Spaltung, aber auch die starke Präsenz der Politik zum Thema der Wohnungsfrage verdeutlichen die Parallelen im Wohnraummangel der Nachkriegsjahre und aktuell.
Die Arbeit beschäftigt sich folglich mit der Frage, ob und wie die Typologie des Großwohnbaus aus den siebziger Jahren in das 21. Jahrhundert transformiert werden kann, um so eine Antwort auf die Wohnungsfrage zu geben. In einem ersten Schritt wurde hierbei ein Thesenkatalog aus den charakteristischen Merkmalen dieser Bauten aufgestellt, um die Typologie des Großwohnbaus der Nachkriegsjahre zu fassen. Die Begrifflichkeiten beschreiben dabei die konkreten inhaltlichen und architektonischen Merkmale dieser Typologie, welche im nächsten Schritt auf das 21. Jahrhundert mit seinen spezifischen städtischen, gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten übertragen wird.
1. Entstehungskriterien:
Infolge von Kriegsschäden und weiträumiger ‚Stadtzerstörung‘ entstanden die Wohnbauten der siebziger Jahre auf großflächigen Grundstücken. In verdichteter Bebauung konnte so wirtschaftlich hocheffizient Wohnraum in großer Zahl entstehen. Um in bereits verdichteten urbanen Agglomerationsräumen Wohnraum in großer Zahl zu schaffen, müssen im Sinne einer Nachverdichtung neue Baugrundstücke mobilisiert und der individuelle Wohnraum kleiner werden.
2. Initiator:
Nach dem zweiten Weltkrieg sollte der Wohnungsfehlbestand mittels aktiver Wohnungspolitik behoben werden und neuer Wohnraum in Großsiedlungen, Trabantenstädten und Großwohnbauten entstehen. Ganz im Zeichen wohlfahrtsstaatlicher Dogmen, Wohlstand und hoher Lebensqualität für alle, führte eine weitreichende Wohnungspolitik im Massenmodell zu intensiver Objektförderung. Die Großprojekte, welche in direkte Verknüpfung mit gemeinnützigen Wohnbauinstitutionen entstanden sind heute als physische Form des Wohlfahrtsstaats anzusehen. Der Wohlfahrtsfokus zeigte sich vor allem in der hohen Qualität der privaten Sphäre, aber auch in der Einrichtung von gemeinschaftlichen, nachbarschaftlichen Räumlichkeiten. Auf Ebene des Quartiers schufen die Bauten durch zusätzliche Nahversorgungseinrichtungen einen Mehrwert.
Der ‚Wohlfahrtsfokus‘ heute äußert sich beispielhaft in der Konferenz der Vereinten Nationen ‚Habitat III 2016 die neue urbane Agenda‘, bei welcher die Vision von ‚Städten für alle‘ in den Vordergrund rückt. Soziale Gerechtigkeit und gleiche Zugangschancen zu städtischen Gütern wie Bildung und Kultur sollen nicht nur hohe Lebensqualität für die Bewohner, sondern für die gesamtstädtische Bevölkerung erzeugen.
Typologie Großwohnbau
1. Zentralität
In Abkehr von der funktionalen Stadt entstanden die Bauten in zentraler Innenstadtlage. So sollten sie aus wirtschaftlicher Sicht zur Wiederbelegung der Innenstädte, zur Infrastrukturentlastung und zukünftigen Infrastruktureinsparung beitragen. Die Großwohnbauten sind folglich als eine Struktur für Kern- oder ‚kernstädtische‘ Gebiete anzusehen und liegen selten mehr als drei Kilometer von der Altstadt entfernt. Heute definiert sich ihre zentrale Lage durch Stadtviertel mit hohem Mietniveau. In den Städten unserer Zeit stellt die historische Innenstadt schon lange nicht mehr das einzige Zentrum dar, vielmehr findet sich in jedem Stadtviertel ein eigenes Zentrum. Diese Polyzentralität führt folglich zu einer ‚Polylokalität‘. In der Körnung an die umgebende Stadtstruktur angepasst schafft der Großwohnbau, als ein Netzwerk in der Stadt verteilt, in seiner Summe das ‚Große‘.
2. Vielfalt
Die hybride Nutzung der Großwohnbauten gilt als Ausdruck eines gesellschaftlichen Habitus ihrer Zeit. Die industrielle Moderne zeigte sich zum einen durch technischen Fortschritt, Rationalisierung, Standardisierung und zum anderen durch den Ausbau der Sozialleistungen und geregelte Arbeits- und Urlaubszeiten. Der Massenkonsum standardisierter Güter der ‚Konsumgesellschaft‘ der Nachkriegsjahre bildete sich architektonisch in der Integration großflächiger Verkaufszonen ab. Auf öffentlicher Ebene wird dieses Angebot durch Hotellerie und Lichtspielhäuser, auf halböffentlicher Ebene durch Bäder, Sonnendecks und großzügige Außenbereiche erweitert und spiegelt somit das Bild der Freizeitgesellschaft wieder. Der Aufstieg des PKWs zum Massengut, der damit einhergehende Anstieg des Individualverkehrs und der verkehrsgerechte Straßenausbau manifestieren sich in den Großwohnbauten in der Bespielung des Erdgeschosses. Strukturell formen sich die Großwohnbauten aus einem verbindenden Sockel, auf welchem eigenständige Gebäudevolumen aufbauen. Somit finden sich im Sockelbereich auf Straßenniveau ausschließlich Flächen für den ruhenden Individualverkehr, zur Anlieferung und zur Versorgung. Darüber, zumeist auf Ebene des ersten Obergeschosses, findet sich der Fußgängerbereich mit Zugang zu den Konsumeinrichtungen. Die aufbauenden Gebäude umfassen neben Wohnraum teilweise zusätzlich Büroflächen. Die abschließende Ebene des Daches (wenn zugänglich) wird durch Freizeitfunktionen wie Sonnendecks bespielt.
Im Sinne der Nachhaltigkeit, besonders der nachhaltigen Mobilität, und dem Wunsch nach Reduzierung des motorisierten Individualverkehrs sollte die Erdgeschosszone des Sockels keine weitere Infrastruktur ausbauen. Vielmehr sollte bestehende Infrastruktur genutzt werden, um neue Bauflächen auszuweisen. So könnte die Stadt auch bei weiter steigenden Bodenpreisen den Bau von sozialem Wohnraum fördern, da die Kostengruppe 100 (welche in München aktuell einen Prozentualen Anteil an den Gesamtbaukosten von über 80% darstellt) entfallen würde.
Durch den Bedeutungszuwachs von Wissenschaft und Technologie in den vergangenen Jahren wird das Maß an Wissen ein grundlegendes Merkmal sozialer Zugehörigkeit und damit auch sozialer Ungleichheit. Somit hat sich ein Wandel in der Logik der Klassenbildung vollzogen, da das Einkommen nicht mehr die einzige Komponente zur Schichtenverteilung bildet. So ist das Wissen über die Zugangsmöglichkeit zu Informationskanälen und die Fähigkeit, die Fülle an Informationen zu filtern, eine eigenständige Dimension sozialer Ungleichheit geworden. Der Wandel hin zur postindustriellen Ökonomie, welcher sich seit den 1970er Jahren immer stärker vollzog, kennzeichnet sich gerade im Erstarken des ‚Humankapitals‘ Wissen. Hierbei bildet der ‚kognitive Kapitalismus‘die Grundlage eines erfolgreichen Werdegangs, wodurch eine höhere formale Qualifikation zur Notwendigkeit vieler Arbeiter wird. Folglich sollte in Anlehnung an den gesellschaftlichen Habitus unserer Zeit Nutzungen des Wissens und der Kultur die des Konsums der 70er Jahre ersetzen. Gerade im geförderten Wohnungsbau, welcher häufig eine hohe Zahl weniger gebildeter Bewohner aufweist, könnte so die Schwelle zu Bildung und gesellschaftlicher sowie politischer Partizipation verringert werden.
3. Gemeinschaft
Die Integration halböffentlicher Zusatzflächen förderte in den Großwohnbauten der 1970er Jahre nachbarschaftlichen Kontakt, Gemeinschaftsbildung, gegenseitige Solidarität und eine erhöhte Identifikation mit dem Wohnort. So konnte zudem Segregation und selektive Mobilität vermieden werden. Auch diese halböffentlichen Flächen entsprachen dem Gesellschaftsstereotyp der ‚Freizeitgesellschaft‘ und sollte als Hobbyräume, Sonnendecks, Saunen oder Pools ausformuliert eine Erweiterung der privaten Sphäre darstellen. Ähnlich der städtebaulichen Figur der Großwohnbauten separieren sich auch diese von der umgebenden Stadtstrukur. Zum einen beschränkt sich der Nutzerkreis ausschließlich (mit Ausnahme von Ivry sur Seine) auf die Bewohner, zum anderen sind sie durch ihre Lage (auf dem Dach, fensterlos im Gebäudeinneren der Terrassenhäuser)zumeist auch visuell dem Quartier entzogen.
Das 21. Jahrhundert, geprägt durch ‚Hyperindividualismus‘ und eine Vielzahl an Ressourcen und Optionen, welche allerdings nicht nur die Möglichkeit einer eigenen Lebensgestaltung ermöglicht, sondern vielmehr dazu zwingt, Verantwortung für die eigenen Lebensentscheidungen zu übernehmen, führen vermehrt zur Gruppierung und kollektiven Gemeinschaften verschiedener Individuen, um Halt und Richtung gemeinsam zu finden. Auch das verstärkte Aufkommen urbaner Initiativen gegen Gentrifizierung, Vertreibung, Kommerzialisierung und Privatisierung des öffentlichen Raums oder für das Verständnis einer Stadt als Gemeingut mit Recht auf Zugang und Differenz gründen auf einem erstarkendem Gemeinschaftsbild. In diesem Sinn, einer ‚Stadt für alle‘ und der Vision eines kollektiven, eigenverantwortlichen, partizipativen bürgerlichen Engagements sollte Gemeinschaft nicht nur unter den Bewohner angestrebt werden, sondern vielmehr im gesamtstädtischen Kontext gesucht werden.
Folglich manifestiert sich die Funktionsvielfalt in nicht kommerziellen Flächen, welche kollektiv und in Eigenverantwortung der gesamten Quartiersbewohner bewirtschaftet und bespielt werden, um freien, ungezwungenen Zugang aller Schichten sowie mehr Solidarität zwischen den Schichten und eine heterogene Nutzerstruktur ermöglichen zu können. Visuell stehen diese Zusatznutzungen wie offene Werkstatt (Fab Lab), Verhandlungs- oder Veranstaltungsraum und Projekträume in direktem Bezug zur umgebenden Bebauung.
4. Individualität
Die Gesellschaft der industriellen Moderne zeichnete sich durch steigende Individualisierung und Emanzipation des Individuums aus. Dies äußerte sich konkret in Abkehr von den funktionalistischen Grundrissen hin zu nutzungsneutralen, offenen Grundrisstrukturen. Die großzügige und differenzierte Gestaltung der privaten Außenbereiche spiegelte wiederum die gestiegene Relevanz der Freizeit wieder. Unterschiedliche bauliche Grundrisse waren den unterschiedlichen Lebensformen von Single, Paar und Familie angepasst und boten so die Möglichkeit, bei geänderten Lebenssituationen innerhalb der Großwohnbauten umzuziehen.
Familienkonstellationen gehen heute weit über die klassischen Bezeichnungen von Single, Paare oder Familie hinaus. So sind Familienmodelle wie Alleinerziehende, Patchwork- Familien, Multigenerations- und Living-apart-Familien, Wohngemeinschaften, Bilokale Paarbeziehungen und ähnliches schon lange keine Seltenheit mehr.
So werden nutzungsneutrale Grundrissstrukturen, welche den Bewohnern die Möglichkeit zur Aneignung bieten, immer wichtiger. Ausgehend von einem Grundtypus in Serie sollten unterschiedliche Wohnungsgrößen maximale Flexibilität der Wohnmodelle bieten.
Dieser aufgestellte Thesenkatalog bildet das theoretische Grundgerüst für das architektonische Konzept. Die Typologie Großwohnbau wurde in einem ersten Schritt beispielhaft am mittleren Ring in München betrachtet. Ausgehend von fünf unterschiedlichen Orten entlang des Rings wurden verschiedene städtebaulichen Szenarien entwickelt. Das Szenario der Landshuter Allee zwischen Nymphenburger- und Leonrodstraße wurde anschließend als exemplarisches Entwurfsgebiet gewählt.
Die Arbeit beschäftigt sich folglich mit der Frage, ob und wie die Typologie des Großwohnbaus aus den siebziger Jahren in das 21. Jahrhundert transformiert werden kann, um so eine Antwort auf die Wohnungsfrage zu geben. In einem ersten Schritt wurde hierbei ein Thesenkatalog aus den charakteristischen Merkmalen dieser Bauten aufgestellt, um die Typologie des Großwohnbaus der Nachkriegsjahre zu fassen. Die Begrifflichkeiten beschreiben dabei die konkreten inhaltlichen und architektonischen Merkmale dieser Typologie, welche im nächsten Schritt auf das 21. Jahrhundert mit seinen spezifischen städtischen, gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten übertragen wird.
1. Entstehungskriterien:
Infolge von Kriegsschäden und weiträumiger ‚Stadtzerstörung‘ entstanden die Wohnbauten der siebziger Jahre auf großflächigen Grundstücken. In verdichteter Bebauung konnte so wirtschaftlich hocheffizient Wohnraum in großer Zahl entstehen. Um in bereits verdichteten urbanen Agglomerationsräumen Wohnraum in großer Zahl zu schaffen, müssen im Sinne einer Nachverdichtung neue Baugrundstücke mobilisiert und der individuelle Wohnraum kleiner werden.
2. Initiator:
Nach dem zweiten Weltkrieg sollte der Wohnungsfehlbestand mittels aktiver Wohnungspolitik behoben werden und neuer Wohnraum in Großsiedlungen, Trabantenstädten und Großwohnbauten entstehen. Ganz im Zeichen wohlfahrtsstaatlicher Dogmen, Wohlstand und hoher Lebensqualität für alle, führte eine weitreichende Wohnungspolitik im Massenmodell zu intensiver Objektförderung. Die Großprojekte, welche in direkte Verknüpfung mit gemeinnützigen Wohnbauinstitutionen entstanden sind heute als physische Form des Wohlfahrtsstaats anzusehen. Der Wohlfahrtsfokus zeigte sich vor allem in der hohen Qualität der privaten Sphäre, aber auch in der Einrichtung von gemeinschaftlichen, nachbarschaftlichen Räumlichkeiten. Auf Ebene des Quartiers schufen die Bauten durch zusätzliche Nahversorgungseinrichtungen einen Mehrwert.
Der ‚Wohlfahrtsfokus‘ heute äußert sich beispielhaft in der Konferenz der Vereinten Nationen ‚Habitat III 2016 die neue urbane Agenda‘, bei welcher die Vision von ‚Städten für alle‘ in den Vordergrund rückt. Soziale Gerechtigkeit und gleiche Zugangschancen zu städtischen Gütern wie Bildung und Kultur sollen nicht nur hohe Lebensqualität für die Bewohner, sondern für die gesamtstädtische Bevölkerung erzeugen.
Typologie Großwohnbau
1. Zentralität
In Abkehr von der funktionalen Stadt entstanden die Bauten in zentraler Innenstadtlage. So sollten sie aus wirtschaftlicher Sicht zur Wiederbelegung der Innenstädte, zur Infrastrukturentlastung und zukünftigen Infrastruktureinsparung beitragen. Die Großwohnbauten sind folglich als eine Struktur für Kern- oder ‚kernstädtische‘ Gebiete anzusehen und liegen selten mehr als drei Kilometer von der Altstadt entfernt. Heute definiert sich ihre zentrale Lage durch Stadtviertel mit hohem Mietniveau. In den Städten unserer Zeit stellt die historische Innenstadt schon lange nicht mehr das einzige Zentrum dar, vielmehr findet sich in jedem Stadtviertel ein eigenes Zentrum. Diese Polyzentralität führt folglich zu einer ‚Polylokalität‘. In der Körnung an die umgebende Stadtstruktur angepasst schafft der Großwohnbau, als ein Netzwerk in der Stadt verteilt, in seiner Summe das ‚Große‘.
2. Vielfalt
Die hybride Nutzung der Großwohnbauten gilt als Ausdruck eines gesellschaftlichen Habitus ihrer Zeit. Die industrielle Moderne zeigte sich zum einen durch technischen Fortschritt, Rationalisierung, Standardisierung und zum anderen durch den Ausbau der Sozialleistungen und geregelte Arbeits- und Urlaubszeiten. Der Massenkonsum standardisierter Güter der ‚Konsumgesellschaft‘ der Nachkriegsjahre bildete sich architektonisch in der Integration großflächiger Verkaufszonen ab. Auf öffentlicher Ebene wird dieses Angebot durch Hotellerie und Lichtspielhäuser, auf halböffentlicher Ebene durch Bäder, Sonnendecks und großzügige Außenbereiche erweitert und spiegelt somit das Bild der Freizeitgesellschaft wieder. Der Aufstieg des PKWs zum Massengut, der damit einhergehende Anstieg des Individualverkehrs und der verkehrsgerechte Straßenausbau manifestieren sich in den Großwohnbauten in der Bespielung des Erdgeschosses. Strukturell formen sich die Großwohnbauten aus einem verbindenden Sockel, auf welchem eigenständige Gebäudevolumen aufbauen. Somit finden sich im Sockelbereich auf Straßenniveau ausschließlich Flächen für den ruhenden Individualverkehr, zur Anlieferung und zur Versorgung. Darüber, zumeist auf Ebene des ersten Obergeschosses, findet sich der Fußgängerbereich mit Zugang zu den Konsumeinrichtungen. Die aufbauenden Gebäude umfassen neben Wohnraum teilweise zusätzlich Büroflächen. Die abschließende Ebene des Daches (wenn zugänglich) wird durch Freizeitfunktionen wie Sonnendecks bespielt.
Im Sinne der Nachhaltigkeit, besonders der nachhaltigen Mobilität, und dem Wunsch nach Reduzierung des motorisierten Individualverkehrs sollte die Erdgeschosszone des Sockels keine weitere Infrastruktur ausbauen. Vielmehr sollte bestehende Infrastruktur genutzt werden, um neue Bauflächen auszuweisen. So könnte die Stadt auch bei weiter steigenden Bodenpreisen den Bau von sozialem Wohnraum fördern, da die Kostengruppe 100 (welche in München aktuell einen Prozentualen Anteil an den Gesamtbaukosten von über 80% darstellt) entfallen würde.
Durch den Bedeutungszuwachs von Wissenschaft und Technologie in den vergangenen Jahren wird das Maß an Wissen ein grundlegendes Merkmal sozialer Zugehörigkeit und damit auch sozialer Ungleichheit. Somit hat sich ein Wandel in der Logik der Klassenbildung vollzogen, da das Einkommen nicht mehr die einzige Komponente zur Schichtenverteilung bildet. So ist das Wissen über die Zugangsmöglichkeit zu Informationskanälen und die Fähigkeit, die Fülle an Informationen zu filtern, eine eigenständige Dimension sozialer Ungleichheit geworden. Der Wandel hin zur postindustriellen Ökonomie, welcher sich seit den 1970er Jahren immer stärker vollzog, kennzeichnet sich gerade im Erstarken des ‚Humankapitals‘ Wissen. Hierbei bildet der ‚kognitive Kapitalismus‘die Grundlage eines erfolgreichen Werdegangs, wodurch eine höhere formale Qualifikation zur Notwendigkeit vieler Arbeiter wird. Folglich sollte in Anlehnung an den gesellschaftlichen Habitus unserer Zeit Nutzungen des Wissens und der Kultur die des Konsums der 70er Jahre ersetzen. Gerade im geförderten Wohnungsbau, welcher häufig eine hohe Zahl weniger gebildeter Bewohner aufweist, könnte so die Schwelle zu Bildung und gesellschaftlicher sowie politischer Partizipation verringert werden.
3. Gemeinschaft
Die Integration halböffentlicher Zusatzflächen förderte in den Großwohnbauten der 1970er Jahre nachbarschaftlichen Kontakt, Gemeinschaftsbildung, gegenseitige Solidarität und eine erhöhte Identifikation mit dem Wohnort. So konnte zudem Segregation und selektive Mobilität vermieden werden. Auch diese halböffentlichen Flächen entsprachen dem Gesellschaftsstereotyp der ‚Freizeitgesellschaft‘ und sollte als Hobbyräume, Sonnendecks, Saunen oder Pools ausformuliert eine Erweiterung der privaten Sphäre darstellen. Ähnlich der städtebaulichen Figur der Großwohnbauten separieren sich auch diese von der umgebenden Stadtstrukur. Zum einen beschränkt sich der Nutzerkreis ausschließlich (mit Ausnahme von Ivry sur Seine) auf die Bewohner, zum anderen sind sie durch ihre Lage (auf dem Dach, fensterlos im Gebäudeinneren der Terrassenhäuser)zumeist auch visuell dem Quartier entzogen.
Das 21. Jahrhundert, geprägt durch ‚Hyperindividualismus‘ und eine Vielzahl an Ressourcen und Optionen, welche allerdings nicht nur die Möglichkeit einer eigenen Lebensgestaltung ermöglicht, sondern vielmehr dazu zwingt, Verantwortung für die eigenen Lebensentscheidungen zu übernehmen, führen vermehrt zur Gruppierung und kollektiven Gemeinschaften verschiedener Individuen, um Halt und Richtung gemeinsam zu finden. Auch das verstärkte Aufkommen urbaner Initiativen gegen Gentrifizierung, Vertreibung, Kommerzialisierung und Privatisierung des öffentlichen Raums oder für das Verständnis einer Stadt als Gemeingut mit Recht auf Zugang und Differenz gründen auf einem erstarkendem Gemeinschaftsbild. In diesem Sinn, einer ‚Stadt für alle‘ und der Vision eines kollektiven, eigenverantwortlichen, partizipativen bürgerlichen Engagements sollte Gemeinschaft nicht nur unter den Bewohner angestrebt werden, sondern vielmehr im gesamtstädtischen Kontext gesucht werden.
Folglich manifestiert sich die Funktionsvielfalt in nicht kommerziellen Flächen, welche kollektiv und in Eigenverantwortung der gesamten Quartiersbewohner bewirtschaftet und bespielt werden, um freien, ungezwungenen Zugang aller Schichten sowie mehr Solidarität zwischen den Schichten und eine heterogene Nutzerstruktur ermöglichen zu können. Visuell stehen diese Zusatznutzungen wie offene Werkstatt (Fab Lab), Verhandlungs- oder Veranstaltungsraum und Projekträume in direktem Bezug zur umgebenden Bebauung.
4. Individualität
Die Gesellschaft der industriellen Moderne zeichnete sich durch steigende Individualisierung und Emanzipation des Individuums aus. Dies äußerte sich konkret in Abkehr von den funktionalistischen Grundrissen hin zu nutzungsneutralen, offenen Grundrisstrukturen. Die großzügige und differenzierte Gestaltung der privaten Außenbereiche spiegelte wiederum die gestiegene Relevanz der Freizeit wieder. Unterschiedliche bauliche Grundrisse waren den unterschiedlichen Lebensformen von Single, Paar und Familie angepasst und boten so die Möglichkeit, bei geänderten Lebenssituationen innerhalb der Großwohnbauten umzuziehen.
Familienkonstellationen gehen heute weit über die klassischen Bezeichnungen von Single, Paare oder Familie hinaus. So sind Familienmodelle wie Alleinerziehende, Patchwork- Familien, Multigenerations- und Living-apart-Familien, Wohngemeinschaften, Bilokale Paarbeziehungen und ähnliches schon lange keine Seltenheit mehr.
So werden nutzungsneutrale Grundrissstrukturen, welche den Bewohnern die Möglichkeit zur Aneignung bieten, immer wichtiger. Ausgehend von einem Grundtypus in Serie sollten unterschiedliche Wohnungsgrößen maximale Flexibilität der Wohnmodelle bieten.
Dieser aufgestellte Thesenkatalog bildet das theoretische Grundgerüst für das architektonische Konzept. Die Typologie Großwohnbau wurde in einem ersten Schritt beispielhaft am mittleren Ring in München betrachtet. Ausgehend von fünf unterschiedlichen Orten entlang des Rings wurden verschiedene städtebaulichen Szenarien entwickelt. Das Szenario der Landshuter Allee zwischen Nymphenburger- und Leonrodstraße wurde anschließend als exemplarisches Entwurfsgebiet gewählt.